Briefe eines Unteroffiziersschülers

Aus den Briefen eines Unteroffiziersschülers in der Militärtechnischen Schule (MTS)


November 1988 – Februar 1989


Prora, 6.11.88

Hallo Sebastian!

Es ist Sonntagnachmittag, Zeit die Post der Woche zu erledigen.
Die Ostsee bedeckt eine leichte Dunstschicht, kreischend ziehen die Möwen am Fenster vorbei. Ab und zu kämpft sich die Sonne durch.
Neben mir steht ein großer dampfender Topf Kaffee und ich bin am überlegen, was ich Dir schreibe. Seit Mittwoch früh hat mich dieser Verein wieder, jedoch bis jetzt ist noch nichts Erwähnenswertes passiert, alles läuft seinen eingespielten, unaufhaltsamen Gang, es kann kaum etwas Überraschendes kommen, den Dienstplan bis Weihnachten kennen wir. Langsam fangen einige an, die Tage bis zum nächsten Urlaub zu zählen.
Ich habe mir aus dem Urlaub das Buch „Erinnerungen an die Zukunft“ von Dänecken mitgebracht. Er befaßt sich darin mit ungelösten Rätseln der Vergangenheiten und versucht sie mit dem Besuch von Außerirdischen zu erklären. Er geht davon aus, daß es im Weltall tausende Planeten mit Leben und intelligenten Wesen gibt. Er hatte wirklich interessante Theorien aufgestellt, vielleicht kannst Du es Dir besorgen und mal lesen.
Am letzten Dienstag war ich in der Schauburg in dem Film „Spiele für Schulkinder“. Ein Film der im Programm sowj. Filme lief, von denen „Die Kommissarin“, „Und morgen war Krieg“, „Der kalte Sommer des Jahres 53“ unbedingt sehenswert sind.
In dem Film „Spiele für Schulkinder“ ging es um Kinder und Jugendliche in einem Kinderheim, alle mehr oder weniger sozial „geschädigt“. Das Heim als Mikrokosmos der Gesellschaft, und die Kinder als deren Mitglieder, die es an Liebe und Achtung zueinander fehlen lassen. Ein kritischer Film, vieles offenlassend.
Ich hätte mir in den 4 Tagen gerne mehr Filme angesehen, aber ich bin nicht dazu gekommen. Viele dieser Filme sind Abrechnung mit dem Stalinismus. Ich hörte von einem neulich die Befürchtung, daß junge Künstler in der SU Probleme haben ihre Bücher und Filme zu veröffentlichen bzw. zu machen, weil alle Kapazitäten gebraucht werden, um die Versäumnisse aufzuholen, d.h. Bücher, die seit 1917 auf „Eis“ liegen zu veröffentlichen, bzw. Probleme der Vergangenheit filmkünstlerisch aufzuarbeiten.

Schreib mal, wie es Dir geht und was ihr als Bausoldaten zu tun habt.
Halt die Ohren steif!

Tschüß
Dein E.

                                                                 *

Prora, 16.11.88

Hallo Sebastian!

Vielen Dank für Deinen Brief aus Merseburg mit Deinen ersten Eindrücken und Gedanken, in denen Du versuchst, Dir eine Philosophie zurechtzulegen, um unbeschadet durchzukommen. Es war interessant zu hören, daß es bei Euch einen starken Zusammenhalt zwischen Alten und Neuen gibt, das erleichtert einiges und hilft vor den Vorgesetzten zu bestehen.
Du sprichst die „Grübelei“ an. Mir geht es oftmals ähnlich. Die meiste Zeit versteht man es, Unangenehmes zu verdrängen, man will es nicht wahrhaben, aber manchmal, abends, wenn ich im Bett liege und aufs Meer schaue kommt mir alles „hoch“, dann beginne ich „seelisch zu kotzen“. Da erscheint mir mein Tun hier und der ganze Verein als sinnlos. Wäre ich in Dresden und würde arbeiten, würde ich sicher die Zeit verleben (im Sinn von vergammeln) aber hier in meiner Unfreiheit spüre ich umso mehr, daß dort draußen kostbare Zeit vergeht, ich habe das Gefühl etwas zu verpassen. Eine scheußliche Situation.
Nun könntest Du vielleicht sagen, was beklagt der sich, der mit seiner spitzenmäßigen Ausbildg., der nichts auszustehen hat, aber das glaube ich, ist nicht das Entscheidende, nach 2-3 Wochen hat man sich an jede Situation gewöhnt, was bleibt ist der graue Alltag.
Manchmal wünschte ich mir, daß ich mir die Wertschätzung meiner Freiheit beibehalten könnte, wenn die Armee zu Ende ist, jeden Tag intensiv zu leben. Aber vielleicht würde es so sein wie wenn man krank ist und man sich schwört gesund zu leben, einen Schwur, den man nach 14 Tagen schon wieder vergißt.
Bei Böll fand ich jetzt einen Gedanken, der genau das ausdrückt, was ich denke:
„Es gibt nichts Sinnloseres, nichts Langweiligeres als das Militär. Auch der Krieg – obwohl ich ihn „interessant“ genug erlebte, erschien uns als nichts anderes als eine ungeheure Maschinerie der Langeweile, blutiger Langeweile.“
Wenn ich meine Briefe, die ich hier schreibe, noch mal überlese, habe ich oftmals den Eindruck, daß sie zu seelischen Mülleimern werden, daß ich darin meinen ganzen Frust ablade. Wohl ein Versuch mit dem Erlebten fertig zu werden.
In der Woche komme ich kaum dazu Briefe zu beantworten, weil das von mir doch ein Maß an Konzentration und Lust erfordert.
In der Woche läuft jeden Abend das Radio des Zimmers auf Hochtouren und es wird lauthals Skat gespielt, es geht um ganze Pfennige. Da hat man dann Mühe zu lesen oder zu schreiben. Aber heute sind sie alle ins Kino gegangen und so ist es leer und ruhig im Zimmer.
Ich weiß nicht, ob Du von Solschenizyn etwas gehört hast. Er hat unter anderem die Bücher „Archipel Gulag“, „Krebsstation“, „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Demissowitsch“ geschrieben. Er war in der Stalinzeit in mehreren Arbeitslagern in Sibirien und hat diese Erfahrungen in seinen Büchern verarbeitet. Von den Tötungsaufgaben der KZ abgesehen lassen sich diese Arbeitslager damit vergleichen. Ich las nun letzteres Buch, in dem 1 Tag von 10 Jahren Arbeitslager eindrucksvoll geschildert wurde. Eine schlimme Epoche in der SU-Geschichte, die auch bei uns aufgearbeitet werden müßte. Vielleicht kannst Du Dir eins von den Büchern „besorgen“?
Ich fand dazu bei Jewtuschenko das Zitat:
„Ein Volk, das sich mutig an die Analyse der eigenen Fehlleistungen und Tragödien wagt, schlägt seinen Feinden die ideolog. Waffen aus der Hand, denn es ist moralisch unbesiegbar, einzig die Furchtlosigkeit vor der Vergangenheit kann helfen, die Probleme der Gegenwart kühn und richtig zu lösen.“
Jedoch ich habe oftmals den Eindruck, wir fürchten die Vergangenheit ebenso sehr wie die Gegenwart und schreiten mit Ungewissheit in die Zukunft. (mit „wir“ meine ich unsere deutsche demokratische DDR.)

Soviel für heute!
Bleib gesund und halt die Ohren steif!

Viele liebe Grüße
Dein E.

                                                                 *

Prora, 29.11.88

Hallo Sebastian!

Vielen Dank für Deine beiden Briefe, die ich letzte Woche bekam. Ich hoffe, daß es Dir trotz Deiner sicher nicht leichten Arbeit doch noch ganz gut geht.
Am Wochenende hatte ich Urlaub und wie schon vorher auch, geht es mir danach seelisch nicht besonders. Gestern war Kriechen und Gleiten im Gelände, heute den ganzen Tag langweilige Theorie und morgen Wache. Die Kurzzeitperspektive mit der ich hier zu denken gewohnt bin, ist also nicht besonders.
Nun will ich jedoch kurz über meinen KU berichten. Mein Vater holte mich am Sonnabendmittag von der Kaserne ab und wir fuhren nach Rostock. (...) Wir haben viel diskutiert, ein wenig ferngesehen und waren gut essen. Jedoch war der Sonntag schon wieder von dem unangenehmen Gefühl überschattet, daß es bald wieder losgeht.
Insgesamt war der Urlaub nicht so schön wie der letzte in Dresden, irgendetwas fehlte doch.
Du wirst sicher merken, daß ich gerade wieder in eines der Stimmungstiefs geraten bin, die mich mit Regelmäßigkeit überfallen und aus denen ich dann nicht so recht weiß herauszukommen. Aber es sind nur noch 22 Tage bis zum Weihnachtsurlaub! Eine Hoffnung die Aufrecht hält.
Hatte ich Dir über meinen „Sputnik-Artikel“ geschrieben? Auf alle Fälle hatte es keinerlei persönliche Folgen; der Oberstleutnant (Fachrichtungsleiter) hat auf dem Appell die Linie der Partei dazu begründet und angeboten, auf persönliche Fragen zu antworten. Ein Angebot, daß wir in Anspruch genommen haben und so diskutierten wir anderthalb Stunden mit ihm. Jedoch das Resultat war von vornherein abzusehen, beide Seiten beharrten auf ihrem Standpunkt.

Soviel dazu!
Ich mach Schluß für heute!

Viele liebe Grüße
Dein E.

                                                                 *

Med.-Punkt, Prora, 1.1.89

Hallo Sebastian!

Ich wünsche Dir ein gesundes neues Jahr!
Der Wunsch kommt von Herzen, da es mir zurzeit nicht besonders geht. Seit dem 30.12. abends liege ich im Med. Punkt der Kaserne und schlage mich mit einer Angina herum. Aber, wie gesagt, wünsche ich und hoffe für Dich, daß Du Deine Zeit als „Bau- und Produktionssoldat“ gut überstehst. Zwar mag die Perspektive für dieses Jahr etwas trostlos sein mit einem ganzen Jahr Armeealltag, aber es bleiben die Urlaube als Inseln der Erholung und geistigen Freiheit. Was in erster Linie als Wunsch an Dich geht, gilt in zweiter Linie auch dazu, mir selbst etwas Mut zu machen.
Am 29.12. habe ich erfahren, daß ich in den Süden, in den Militärbezirk III versetzt werde, da ist noch alles offen, von Suhl bis Görlitz, aber die Hoffnung bleibt, nach Dresden zu kommen. Eine Story will ich Dir noch erzählen, die sich am ersten Tag hier, am 28.12. zutrug. Etwas verspätet kam ich am Anreisetag gegen 8.30 in Prora an, mit anderthalb Litern Alk im Gepäck. Trotz Kontrolle am Kdl und in der Kompanie wurde nichts gefunden, jedoch begann man sich auf der Kompanie für meine Bücher zu interessieren, die ich mitgebracht hatte, z.B. ein DTV-Buch von R. v. Weizsäcker „Die dt. Geschichte geht weiter“. Der UvD, ein richtiger Unteroffizier, rannte mit diesem Buch zum Hauptfeldwebel, kam nach 2 Minuten wieder, um alle anderen Bücher von mir einzuziehen, unter anderem die „Bibel“ und ein Buch über Stalin von 1953. Ich bin zum Fachrichtungsleiter gegangen und habe ihn sinngemäß gefragt, ob er sich des Verfassungsbruchs schuldig machen will und er versprach mir die Bücher wiederzugeben. Auf einmal wollte es keiner mehr gewesen sein, der die Bücher eingezogen hatte, der UvD und der Hauptfeldwebel nicht. So bekam ich am Nachmittag aus den Händen des Fachrichtungsleiters die Bibel, „schließlich haben wir Glaubensfreiheit verfassungsmäßig garantiert“ und das Stalin-Buch „ist zwar Schund, war aber mal unsere Position“ wieder, dagegen das Weizsäcker-Buch erst zum nächsten Urlaub, „man möchte doch mit dem Lesestoff auf der Linie bleiben.“
Aber zu guter Letzt versuchte er mir, resultierend aus allen 3 Büchern eine Absicht unterzuschieben, schließlich kannte er meinen Sputnik-Artikel. Und zu allem „Unglück“ hatte ich in der Bibel einige Stellen markiert, die ich lesen wollte und die in einem „Bibel-Leseplan“ (Gemeint ist ein kleines Informationsheft über Jesus und die Bibel, wo mit einem Leseplan die erste Begegnung mit der Bibel erleichtert werden sollte.) aufgeführt waren, so unter anderem von der „Feindesliebe“ usw. Mir blieb nichts anderes übrig, als seine Behauptung zu dementieren und für jedes Buch einzeln zu begründen, warum ich es lesen wolle.
Aber wie Du Dir vorstellen kannst, ist ein Silvesterabend im Med. Punkt in einem weißgetünchten Zimmer mit einem plärrenden Radio, ohne etwas zu trinken nicht die beste Einstimmung auf das neue Jahr, und so bin ich auch fast friedlich in das neue Jahr hineingeschlafen.
Mal eine Woche im Med. Punkt liegen ist ja nicht schlecht, mal ausschlafen, Bücher lesen, Briefe schreiben und so richtig ausspannen – schließlich verpaßt man ja nichts – aber zu Silvester hätte es nun wirklich nicht sein müssen!

Aber ich freue mich schon auf den nächsten Urlaub in Dresden in 11 Tagen!
Soviel für heute!

Viele liebe Grüße
Dein E.
 
                                                                 *


Prora, 19.1.89

Hallo Sebastian!

Als ich aus dem Urlaub wiederkam, fand ich Deinen Brief vor, vielen Dank dafür!
Zwar wollte ich die Post erst am Sonntag erledigen – in aller Ruhe, aber heuteabend hatte ich keine Lust zum Lesen, und so versuche ich Dir zu schreiben und zu berichten vom Urlaub im heimatlichen Dresden.
Freitag – eine Stunde vor Abfahrt wollte ich mir das Buch von Weizsäcker abholen, das sie mir abgenommen hatten, aber es war nirgends aufzufinden, auch mein Zugführer rannte hilflos von Zimmer zu Zimmer, er hatte mir versprochen sich zu kümmern, daß ich das Buch zum Urlaub wiederbekomme, zumal mir der FRL (Fachrichtungsleiter) das zugesichert hatte. Aber vielleicht hatte er das Buch noch nicht ausgelesen?
Ich bin zum ersten Mal pünktlich aus dem Urlaub angekommen, dementsprechend voll war der Zug. 6 Mann pro Abteil, Alptraum-Schlaf in verrücktesten Positionen – am nächsten Morgen war ich „groggy“. Sonst war ich mit einem Zug der 1 Stunde später, durch Zugverspätungen bedingt, gefahren und konnte liegen und schlafen.
Lektüre auf der Rückfahrt war der Stalin-Artikel aus dem Sputnik 10/88, den Tom mir versorgt hatte. Mag sein, daß er polemisch und unsachlich war, aber er enthielt einige interessante Details zu Stalin und den Repressalien.
Das interessanteste Detail war die Verhinderung der Aktionseinheit von SPD und KPD.
Wie hat man uns nur belogen, wenn das alles wahr sein sollte?
Das große Kulturereignis in Dresden war für mich „Die Übergangsgesellschaft“, einem der stärksten Stücke, die ich je gesehen habe. Da war alles drin, der „Sinn-Verlust“, die Ausreisefrage, die Stagnation in der gesell. Entwicklung und die Fragwürdigkeit der Ideologie und Propaganda in den Medien. Das ging schon an die Substanz! Da rumorte es ganz schön in mir. Da waren so viele starke Sätze drin, die man sich hätte aufschreiben wollen.
Das Stück mußt Du Dir unbedingt ansehen und mit Urlaubsschein hast Du reelle Chancen reinzukommen.
Ich habe ansonsten nicht viel unternommen, habe mich versucht zu erholen und seelisch die innere Ruhe wiederzufinden. Ich habe Tom, Jens und Falk mal wiedergesehen, die anderen waren nicht in Dresden. Am Montag war noch ein Vortrag mit Böhme gewesen, dem Dresdner Theaterfotografen, war ganz interessant, und ich hoffe auf Zeit, daß ich ab März auch wieder Fotos machen und experimentieren kann.

Soviel für heute!

Viele liebe Grüße
Dein E.

Anbei meine „unpolitische“ Neujahrskarte.

                                                                 *

Prora, 2.2.89

Hallo Sebastian!

Sei gegrüßt aus Prora!
Die Tage in Prora sind gezählt, nur noch 14.
Jeder neue Tag wird mit der Pseudo E-Glocke eingeläutet.
Endlich hat der „Spuk“ hier oben ein Ende!
Gestern haben wir unsere Versetzungsorte genannt bekommen; ich habe unglaubliches Glück gehabt und werde vermutlich in den Raum Dresden versetzt, zur 7. Panzerdivision. Du kannst Dir vorstellen, wie ich mich darüber gefreut habe!
So lassen sich die nächsten 2 ½ Jahre sehr viel optimistischer angehen. Da erscheint vieles wieder möglich, wie zum Beispiel Volkshochschule, Fotoclub und Heimschläfer, aber ich erwarte zunächst nichts von dem, es wird sich ergeben oder nicht, ich bin zunächst froh darüber, überhaupt in meinen Heimatbezirk zu kommen.
Aber so ungetrübt war gestern die Freude auch nicht, da 4 von 6 aus dem Zimmer relativ weit weg von zu Hause versetzt wurden und nun Entfernungen von 250-600 km haben (z.B. Dranske – Dresden). Und wenn man ein halbes Jahr in einem engen Zimmer miteinander zugebracht hat, da läßt es einen doch nicht gleichgültig, wie die anderen vom Schicksal gebeutelt werden.
Es ist schon belastend und schlimm, wenn sich einer zu 3 Jahren verpflichtet und dann nach Dranske verbannt wird, da haben es die 1 ½ jährigen besser!
Ich weiß nicht, wann ich Dir das letzte Mal schrieb, kann also sein, daß ich mich wiederhole. Die letzten 14 Tage seit dem letzten Urlaub sind unheimlich langsam vergangen, waren ausgefüllt mit Wachen und Feldlager.
Das Feldlager war immer mehr gekürzt worden in der Vorbereitung und was davon übrig blieb, war eine Nacht draußen übernachten (da hatte ich UvD) und 3 Tage Ausbildg. Von 7.00-22.00 in der Kaserne (2 Tage) und im Feld (1 Tag). Zu mehr hatte die Kompanieführung wohl keine Lust, und zum anderen sollen wir ja nicht zu Soldaten, (Kriegspielern) ausgebildet werden, sondern zu militärisch angehauchten Filmvorführern und Tontechnikern. In aller Kürze haben wir gestern und heute die Theorie von stationären Kinoprojektoren durchgenommen, in 14 Stunden non-stop! War zwar oberflächlich, aber hochinteressant. Wir bekommen hier die Berechtigung für transportable 35 mm-Kinoanlagen (wie Dorfkino) und nur die theoretische Grundlage für die stat. Anlagen und nur bei Bedarf werden wir später die praktische Ausbildung und Prüfung in der Truppe machen. Ich hoffe, daß ich dann diese Berechtigung bekomme, um später auf dem Gebiet „jobben“ zu können. Neben den großen stat. Projektoren nimmt sich die transportable Anlage wie Spielkram aus. Aber wenn man die 5 Monate so überblickt, kann ich nur froh sein, kein militärisches Zeug aus Nachrichten- oder Panzertechnik gelernt zu haben.
Ich habe in vielen Dingen, die meine „Laufbahn“, (klingt komisch nicht?) [betreffen], Glück gehabt: Penne, Studium in Aussicht, Armee in guter Fachrichtung und in Dresden. Theoretisch müßte irgendwann der „Hammer“ kommen. Aber ich will auf etwas anderes hinaus: Ich las bei Maxi Wander, daß es Glück eigentlich nicht gäbe, sondern nur die Fähigkeit, glücklich zu sein.
Ich suche nun diese Fähigkeit, in mir „glücklich“ zu sein, sich freuen zu können auch über die kleinen Dinge des Lebens. Ich habe, teilweise durch die Armee bedingt, dieser Unfreiheit im persönlichen Bereich, zu dieser Fähigkeit versucht wieder zu finden; wenn ich im Urlaub bin, dann erlebe ich viele Sachen sehr intensiv und bewußt und kann mich auch wieder über kleine Aufmerksamkeiten freuen. Ich glaube, man sollte unbedingt versuchen, diese Fähigkeit in sich zu bewahren und hinüberzuretten in kommende Zeiten. Es wäre schlimm, bei dem Verein kaputt gespielt zu werden und seelisch deformiert ausgestoßen zu werden. Ich hatte Dir erzählt, daß ich hier oft ins Grübeln komme über den Sinn meines Tuns oder Nichttuns, über den Sinn meines Lebens und manchmal komme ich nicht umhin, einige dieser wirren Gedanken aufzuschreiben.
Ich hoffe, daß wir uns von nun an öfters mal sehen, wenn Du auf Urlaub in Dresden sein solltest. Ich bin bis zum 16.2. hier, schreib mir mal wie es Dir geht, hierher oder nach Hause!

Viele liebe Grüße

Tschüß Dein E.


                                                                 *

Prora, 9.2.89

Hallo, lieber Sebastian!

Vielen Dank für Deinen Brief [für Deinen Brief: durchgestrichen] für Deinen netten Brief, der heute kam. (Schon im ersten Satz Konzentrationsschwierigkeiten!) War ja spannend zu lesen, von den Ereignissen auf dem Weg nach Weimar zu Deinem „Ausgang“. In der letzten Woche habe ich nun erfahren, wo ich hinversetzt werde. Dazu wurden wir alle in den Fernsehraum kommandiert, wo jeder eine Buchstabenkolonne genannt bekam, die die spätere Einheit benannte, aber der Hauptfeldwebel wußte nur bei 70-80% den späteren Standort. Die anderen tappen nach wie vor im Dunkel. Ich habe jedoch phantastisches Glück gehabt! Ab 18.2. werde ich in Dresden stationiert sein in einem materiellen Sicherstellungsbatallion.
Du kannst Dir vorstellen wie sehr ich mich darüber gefreut habe. Es war kaum vorstellbar, da nur wenige, 20% vielleicht, nach Hause versetzt werden. Einer aus Dresden, der in meinem Zimmer ist, wurde nach Zingst versetzt. Da hat wohl der Hauptfeld und KC daran gedreht, weil er immer offen und kritisch zu allen Sachen seine Meinung gesagt [hat]. Er war unbequem und so haben sich die Jungs revanchiert. Äußerlich wenigstens trägt er es gelassen, aber wer weiß schon wie es in einem [einem: durchgestrichen] ihm innendrin aussieht.
Am Montag war Tiefenkontrolle in der Kompanie. Es war wie eine Hausdurchsuchung in einem schlechten Krimi. Die ganze Sache kam völlig überraschend. Der ganze Schrank wurde ausgeräumt, alle Fächer entleert und alle Sachen aufgemacht, reingeschaut, durchgewühlt und durchgesehen. Hätten sie mir Alk oder einen Tauchsieder / Ufo abgenommen, hätte ich es noch akzeptieren können, aber so haben sie sich an meinen Gedanken und Auffassungen vergriffen und mehr oder weniger beleidigt.
Der Hauptfeldwebel, der die Kontrolle machte, fetzte 2 Sprüche von meiner Schranktür ab, einen von Jewtuschenko über den Umgang mit der Geschichte, wo er sagt: um mit der Gegenwart zurecht zu kommen, muß man die Fehler der Geschichte schonungslos aufdecken. Der andere Spruch war der über die „Gelassenheit die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann...“ Zum weiteren haben sie eine Sputnik-Kopie 10/88 und Abzüge meiner Neujahrskarte „Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten“ hochgezogen. Bezeichnend, was da eingezogen wurde! Ich hatte eine unheimliche Wut im Magen. Diese Willkür hat mich wahnsinnig belastet und „angekotzt.“ Ich habe ganz schön gebraucht, um mein Gleichgewicht wiederzufinden.
Ich hatte das Gefühl, daß die Jungs mir einen „Strick“ drehen würden.
Dieses Gefühl sollte nicht getäuscht werden!
Gestern früh wurde ich zum Fachrichtungsleiter bestellt, mein ZF und der Polit waren dabei.
Die obskuren Objekte des Anstoßes legen auf dem Tisch, und ich wurde verhört über Motive meines „schändlichen“ Tuns. Vorrangig drehte es sich um den Sputnik. Der FRL sagte mir, er wolle mich unter Umständen von der Unteroffiziersprüfung absetzen und mich als Soldat in die Truppe entlassen. Vorher jedoch, hatte er sich durchgerungen mich anzuhören und so galt es eine möglichst überzeugende Argumentation zu finden, die auf politische Naivität, teils Unwissenheit über rechtliche Bestimmungen, bei aber gefestigtem Standpunkt hinauslief. Keinesfalls durfte das Bild eines Staatsfeindes und bewußten Straftäters entstehen. So habe ich dann versucht zu argumentieren, daß der Sputnik 10/88 noch nicht von der Postzeitungsliste gestrichen gestrichen und noch nicht verboten war, sondern unbegründet, vermutlich aus techn. Gründen nicht erscheinen ist, aber in Einzelexemplaren noch verkauft wurde. Damit sei es keine verbotene Zeitschrift. Einzig allein die Kopie sei nicht zulässig gewesen, aber ein Einzelstück, kaum einer Verbreitung in der Kompanie ausgesetzt gewesen. Dazu ging ich auf meine eigene kritische Wertung des Artikels ein. Wie mir mein Zugführer heute sagte, konnte der FRL einige dieser Argumente nicht außer acht lassen und hat mich, wie er mir heute sagte, nicht von der Prüfungsliste gestrichen. Es war wirklich für mich eine brenzlige Situation, wo ich spürte wie Armee + Stasi mit brachialer Gewalt zuschlagen können und einem die nächsten 3 Jahre zur Hölle machen können. Da ist es nicht einfach, seine Positionen zu wahren! Wie leicht wird man zum Opportunisten, der sich anpaßt und überall mitmacht. Vielleicht wirst Du sagen, ich war naiv, aber diese ganze Sache hat eine Menge meiner Illusionen über die relative Freiheit und Demokratie in diesem Staat zerstört. Es war wirklich desillusionierend. Kann sein, daß ich noch mal zur Abteilung der Firma muß! Ich werd es überstehen!
Aber wie schnell hat man in solchen Situationen Angst um sein bißchen Zukunft und Leben. Soviel zu diesem traurigen Kapitel.

In einer Woche ist alles vorbei, Prora
good-bye!
Ich ruf Dich an, wenn ich in Dresden angekommen bin, vielleicht bist Du auf KU.

Viele liebe Grüße
Dein E.

P.S.: Du siehst an den Streichungen und Überschreibungen, daß ich Konzentrationsschwierigkeiten habe, ich bin urlaubsreif. Hoffentlich bekomme ich Versetzungsurlaub.


                                                                 *

Dresden, 26.2.89

Hallo, lieber Sebastian!

Sei gegrüßt aus dem heimatlichen Dresden!
Ich hoffe, es geht Dir gut!
„Es ist Sonntag morgen auf der ganzen Welt, und die Kirchenglocken läuten, daß es Gott gefällt...“ läuft gerade im Radio und ich sitze bei meinem Kaffee im Dienstzimmer und sehe nebenbei Fernsehen (Ski-WM) und versuche Dir zu schreiben.
Du warst der einzigste, der mir auf meine letzten Tage in Prora noch geschrieben hatte, die anderen befürchteten, ihre Briefe würden mich nicht mehr erreichen. Die letzten Tage in Prora waren locker, die Vorgesetzten mußten keine Angst mehr um ihre Autorität haben, die Prüfungen waren simpel. Es war eine eigenartige Situation, weil keiner wußte, wie die Zeit nach der Abversetzung verlaufen würde, es war wie ein schwarzes Loch.
Die letzte Nacht haben wir durchgemacht, und früh um fünf gingen wir nach einem halben Jahr Zusammenleben, mit Beteuerungen uns wiederzusehen und uns zu schreiben auseinander. Ich glaube, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und diese Kameradschaft und Freundschaft werde ich wohl nicht so schnell wiederfinden.
Zwar beruhte diese Freundschaft auf vielen Kompromissen und vielen unausgesprochenen Problemen und funktionierte nur unter dem Druck der Armeeatmosphäre, aber sie hat mir immer unheimlich viel seelische Stabilität und Kraft gegeben und machte die für mich so notwendige Kommunikation und Gespräche über „Gott und die Welt“ möglich.
Mit den 3 Mann in meinem Zimmer wird es schwieriger werden, die Gesprächsthemen zu finden, zum einen, weil sie in einer anderen Richtung (Feldbäckerei) arbeiten und zum anderen mich als Neuen vielleicht nicht so richtig akzeptieren. Es wir bei small-talk bleiben. Der Job, den ich hier habe, ist nicht schlecht, der beste im Grunde genommen.
Ich mache 2x in der Woche Kino, habe eine kleine Bibliothek (2500 Bücher), ein „Tonstudio“ um Appelle und Sportfeste zu beschallen und bin für alle Fernseher, Radios der Einheit verantwortlich. Ein Aufgabenbereich, heute kaum zu übersehen, mit viel Bürokratie und Schreibkram der Nachweisführung. Aber ein bißchen bin ich eben auch in meinem Element, zumal ich auch das Fotolabor nutzen kann.
Ausgang könnte ich täglich nehmen, wenn nichts dienstlich anliegt (2-3x in der Woche). Alle 2-3 Wochen KU werde ich beantragen.
Bei meinem Vorgänger wurde kaum mal etwas in dieser Richtung abgelehnt, allerdings muß man dazu sein Image haben und ausbauen und da zählt nur Leistung, Spitzenfotos, keine Pannen bei Appellen, und eine regelmäßige Filmbespielung.
Aber man darf seine Normen nicht versauen, da dauert eben die Filmentwicklung statt einer halben Stunde 3 Stunden und die monatliche Wartung aller Geräte 2-3 Tage. Was ich mache, können mir nur 2 Chefs befehlen, alle andern kann ich zu diesen beiden schicken. Ein Traumjob, aber manchmal muß man es sich auch einreden und vor Augen führen, am besten daran, was die anderen Uffze machen!
Jeden Donnerstagvormittag bekomme ich ein Auto, um Sachen zur Reparatur zu schaffen oder Verbrauchsmittel einzukaufen. Die Tour geht über Radebeul – Weinböhla – Mickten –Zentrum – zu Hause – Kaserne. So ist jeden Donnerstag der inoffizielle Ausgang sicher. Dann habe ich einen monatlichen Dienstauftrag für den Standort Dresden, wo ich aus der Kaserne rauskomme um dienstliche + private Sachen zu erledigen – feine Sache! Mein Vorgänger sagte mir, Du bestimmst Deinen Terminkalender, Du mußt über zu erledigende Aufgaben besser als Deine Chefs Bescheid wissen und Vorschläge machen. Wenn ich das so aufschreibe, klingt es phantastisch, aber es hat alles seine Kehrseite! So zum Beispiel die verflucht lange Zeit: 2 ½ Jahre, dann bin ich vorwiegend „Einzelkämpfer“ und komme wenig mit den Leuten in Kontakt, sitze meistens in meinem Dienstzimmer herum. Übrigens durch die Bewegungsarmut ist mein Vorgänger völlig verfettet, mir droht ähnliches, vielleicht das ich erstmal auf Normalgewicht komme.
Als erstes werde ich hier im Dienstzimmer meine „Tee-Kultur“ einführen, wo ich ein so begeisterter Teetrinker bin. Habe mir dazu einen Wassererhitzer (Topf mit montierter Heizplatte) gekauft und werde ihn hier aufstellen und so auch nach der Dienstzeit im Dienstzimmer sein, da habe ich wenigstens meine Ruhe!

Soviel als erster Eindruck!
Schreib wenn Du Lust hast nach Hause

Viele liebe Grüße
Dein E.

PS: Hier ist alles von Stasi durchsetzt, wenn also etwas drinsteht, was sie nicht unbedingt lesen sollen, dann schreib nach Hause!


Quelle:
Sebastian Kranich: Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe: Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, Halle 2006.
(Darin auch Antwortschreiben und Hintergründe zu diesem Briefwechsel.)
 

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